Gestern
war ich zum ersten Mal seit Ende des Gallus Experiments wieder am Waldplatz
oberhalb des Rütibachs. Ich habe mich sehr gefreut, dort zu sein. Vom Gefühl
her war es wie, eine sehr gute Freundin wiederzusehen, der ich schon lange Zeit
nicht mehr begegnet bin. Die Verbindung ist sofort da. Einfach wieder reden und
erzählen, als ob wir uns tags zuvor verabschiedet hätten.
Es war, wie an einen Ort zurückzukehren, an dem ich lange zuhause war. Alles
ist vertraut. Ich weiss noch genau, an welchen Stellen der Boden wie beschaffen
ist – gerade, wenn es, wie in den letzten Tagen, intensiv geregnet hat, ist das
dort am Rütibach hilfreich, um nicht auszurutschen. ? Ich war sofort ganz da. Erinnerungen, Gefühle und
Verbundenheit kam auf. Ich hätte sofort wieder Holz spalten können und ein
Feuer entfachen oder mich unter „meine“ Bäume setzen und meditieren können. Und
doch ist Zeit vergangen. Ich habe wahrgenommen, dass andere Menschen inzwischen
den Waldplatz belebt haben. Das trockene Holz, das ich unter eine der
Tischgruppen aufgeschichtet und da gelassen hatte, war fast aufgebraucht.
Holzscheite wurden vor der Feuerstelle liegengelassen, was ich persönlich nie
gemacht hätte – hatte während der drei Wochen immer versucht, alles in Ordnung
zu halten. Ich habe realisiert, dass ich eine tiefe Verbindung zu dem Ort am
Rütibach aufgebaut hatte, die ich nicht einfach abschütteln kann. Aber ich muss
diesen Ort auch loslassen, frei geben, dem Leben übergeben.
Das dünkt mich eine der grossen Herausforderungen im Leben zu sein: loszulassen
und gleichzeitig verbunden zu bleiben. Jede und jeder, die einen geliebten
Menschen durch den Tod verloren haben, kennen das Gefühl. Aber auch Eltern,
deren Kinder erwachsen werden und ausziehen. Mit Ideen, die man entwickelt und
umsetzt, ist es oft genauso. Auch Künstler*innen kennen das – ein Kunstwerk
oder eine Komposition in die Welt der Interpretation zu entlassen, ist ein
Wagnis.
Ich glaube, damit eine solche Herausforderung gelingen kann, braucht es eine Vorbereitung.
Und tatsächlich habe ich mich auf das Ende des Gallus Experiments vorbereitet,
habe mir Gedanken gemacht, was und wie ich Erfahrungen, die ich gewonnen habe,
in meinen Alltag integriere. Wir können nie alles planen im Leben – Leben ist
Wagnis. Aber wir können uns vorbereiten auf bestimmte Möglichkeiten,
Lebensabschnitte, Veränderungen… das heisst, wir können uns mit der Zukunft
verbinden.
Im Verbundensein liegt meiner Meinung nach die Kraft, die Loslassen tragbar
macht. So widersprüchlich das klingen mag… Das Leben mitten in der Natur hat
mir gezeigt, dass alles Werden, Vergehen und Werden ist. Alles Werden und alles
Vergehen ist getragen vom Verbundensein. In der Natur vergeht nichts einfach
ins Nichts und nichts kommt aus dem Nichts. Alles ist mit allem Verbunden. Im Buch
der Psalmen im Ersten Testament spricht Psalm 31 davon: „Alle Zeiten meines
Lebens sind in deiner Hand.“
Im Göttlichen, im Urgrund ist alles, was ist, alles, was fliesst, alles
Flüchtige, alle Zeiten, alles Vergängliche miteinander verbunden. Diese
Erfahrung ist für mich die grösste Kraft, die mir das Leben inmitten der Natur
bewusst werden liess. Als Mensch, als Lebe-Wesen, bin ich mit allem verbunden.
Und das Verbundensein hat aber auch Verbindlichkeit zur Konsequenz. Das wird mir
im Zusammenleben meines Alltags sehr stark bewusst. Im Wald war es einfacher…
Hier im „nomalen“ Alltag fordern mich meine Mitmenschen heraus. Spüre ich die Verbindung
zu einem Menschen, der mich nervt? Lebe ich die Verbindung zu Menschen, die mit
mir nicht auf der selben Wellenlänge sind? Gelingt es mir, die Verbindung zu
einem Menschen zu wahren, selbst wenn er mir Leid zufügt? Darin wird für mich die
grosse Herausforderung immer wieder spürbar, die in einer Spiritualität
angelegt ist, die sich als „Verbundensein mit allem“ versteht. Daran arbeite
ich gerade fest. Das ist eine der grössten Challanges, die ich als Aufgabe aus
dem Leben im Gallus Experiment mit in meinen Alltag zurücknehme. Und ich
möchte, das Verbundensein leben! Das wurde mir ganz bewusst, als ich mich auf
mein Leben nach dem Gallus Experiment vorbereitet haben.
So wird mir nicht langweilig – ich darf immer weiter an mir arbeiten. Und ich sag
Euch: es ist herausfordernd, aber es macht Spass. Heute ende ich mit einer
Fussballweisheit von Sepp Heerberger – denn schliesslich ist nach dem Spiel vor
dem Spiel!
Das Gallus Experiment St.Gallen
St.Gallen. Im Rahmen des «Gallus Experiment» hat Matthias Wenk seine Sachen gepackt und 20 Tage alleine im Wald gelebt.