Obwohl mir die Vögel mit ihrem lebhaften Gesang schon in aller Frühe, als noch kaum Tageslicht zu erahnen war, den Beginn des neuen Tages angekündigt haben bleibe ich gemütlich in der Hängematte liegen. Es ist wundervoll, Zeit zu haben und im vor sich Hindämmern mitzuerleben, wie um mich herum alles zum Leben erwacht. Dabei ist es ja definitiv nicht so, dass des Nachts im Wald alles schläft. Gestern Abend sind vor mir wieder einmal zwei Rehe durchs Dickicht gerannt. Ich konnte schon nichts mehr wirklich erkennen, da die Dunkelheit sich im Wald Bahn brach. Doch die beiden Rehe sind schattengleich – in einer enormen Geschwindigkeit – durch den Wald geeilt. Ohne sich auch nur ein wenig an Bäumen oder Dickicht zu stossen oder sich in ihnen zu verfangen.

Die Vorsicht, das Ungewisse, Angst schwingt immer mit, wenn ich mich am Spätabend in die Hängematte lege. Eni braucht immer auch eine geraume Zeit, um sich an diese besondere Schlafsituation zu gewöhnen. Wir sind der Nacht und der Tierwelt des Waldes unter der Plache völlig ausgeliefert. Immer wieder neu wird mit bewusst, dass ich mit meinen menschlichen Sinnen und meiner «mageren» körperlichen Ausstattung das schwächste Glied in der Gemeinschaft derer bin, die hier im Wald leben. Das Einzige, was mir ein kleinwenig Stärke vermittelt, ist mein Verstand. Einerseits ist er tatsächlich eine Hilfe, da ich mir meinen «Pilgerstab» und ein Jagdmesser immer für eine allfällige Verteidigung parat lege. Andererseits verstärkt der Geist auch negative Gefühle. Ihr kennt das ja auch: Plötzlich entspinnen sich in den hintersten Ecken unserer Phantasie wilde Geschichten und schleichen sich bis nach vorne. Dort angekommen, lassen sie mich jede Nacht nicht einmal abklären, ob ich nicht doch besser im «sicheren» Zelt schlafen soll… Wie stolz ich jeden Morgen bin und dankbar, dass ich eine weitere Nacht in der Hängematte unter dem Nadel- und Blätterdach des Waldes «ausgehalten» habe.

Hier am Waldplatz – und gerade nachts – kann ich mich neu ins Vertrauen einüben. Die Natur lernt mir zu vertrauen. Gewisse Vorkehrungen kann ich als Mensch treffen. Alles absichern kann ich nie. Und ich kann mich spirituell und geistig mit meinen MitbewohnerInnen im Wald verbinden – ihnen gute Gedanken, respektvolle Botschaften und die Vereinbarung «zusenden», mich an mein «Revier» zu halten. Ich bin nicht mehr als ein Teil des Waldes. Doch als dieser eine Teil der Waldgemeinschaft fühle ich mich inzwischen. Und das Vertrauen ist der Schlüssel dazu.

In meiner heutigen Mittagslesung zitiert der Wüstenvater Evagrios Pontikos Deuteronomium (5. Buch Mose), Kapitel 4, Vers 31: «Adonai, euer Gott, wird euch gewiss nicht vernichten und euch nicht tim Stich lassen, und er wird den Bund mit euren Vorfahren nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat.» Spannend, wie einem solche Gedanken und Sätze immer wieder zufliegen. Mein Vertrauen hier wird auf die Probe gestellt. Doch gleichzeitig ist das Leben hier im Wald auch ein wirklicher Nährboden für Vertrauen – schlicht und ergreifend «Lernfeld», «Lern-Raum». So wie das Leben im «gewöhnlichen» Alltag auch.

Auf so vielen Ebenen darf ich hier so direkt an der Natur erleben, dass das Göttlich mich nicht vereinsamen lässt. Ich mag hier draussen alleine sein. Aber einsam bin ich nicht. Das Göttliche hat sich an die Natur gebunden. Immer wird Gott verbunden und da sein. Auch bei mir!

Gestern Nachmittag bin ich barfuss mit Eni den Lauf des Rütibachs abwärts gefolgt. Sie ist mir leichtfüssig vorausgehüpft. Ich stacksig hinter ihr her. Als ich in der Sonne auf einem grossen Flusskiesel meine Füsse trocknen liess, habe ich unter mir im Wasser viele, viele Larven der Eintagsfliege entdeckt. Unermüdlich haben sie dort in ihren kunstvollen Behausungen (Röhren) nach Nahrung gesucht. Haben richtig geschafft. Jedenfalls sah es für mich danach aus. Plötzlich schoss mir durch den Kopf: und das alles nur für einen Tag Leben über der Wasseroberfläche…

Was für ein Vertrauen!? Vertrauen, dass so manches Sinn macht, was nicht sinnvoll erschein. In der ganzen Schöpfung steckt das Vertrauen als Lebensmotor. Vielleicht ja eben darum, weil Gott mit allem verbunden ist?! Jedenfalls kann es so etwas wie Evolution nicht geben ohne das Vertrauen, dass es sich «lohnt», einen Weg zum Überleben zu finden.

Auch ich habe die Nacht trotz aller Phantasien und Ängste, Zweifel und Unsicherheiten überlebt. Bin nach den Vögeln von einer Klasse auf Schulreise endgültig geweckt worden, und durfte mir zwischen Fragen wie «Ist das Deine Wohnung?» und «Hast Du keine Angst?» meinen Morgen-Kaffi am Feuer kochen. Hmmm, wie fein der geschmeckt hat!

Die "Überlebensmittel" von Matthias im Wald: Pilgerstab, Jagdmesser, Bibel. Trinkflasche. Schreibzeug, etc.