Was für ein wunderbarer, sonniger Tag – Johannestag! In den Tagen der kürzesten Nächte des Jahres gedenkt der kirchliche Kalender der Geburt Johannes des Täufers, dem Cousin von Jesus. In genau sechs Monaten feiern wir Heiligabend – ebenfalls um den Zeitpunkt einer Sonnenwende herum. Wahrend jetzt die Tage wieder kürzer werden – Gott sei Dank zunächst nur unmerklich – werden nach Heiligabend die Tage wieder länger. Die Dunkelheit des Winters ist dann überwunden. Die Geburt von Jesus soll auch die Dunkelheit unseres Lebens überwinden, mit Licht und Wärme, mit Verbundensein mit dem Göttlichen ausleuchten. Der Johannestag will uns zeigen, zu was uns Menschen ein Leben in der Verbundenheit führen kann – zu einem Leben im Licht. So ein Leben hat Johannes der Täufer geführt. Er hat die Einfachheit und die Naturverbundenheit eines Wüstenlebens gesucht.

Mich fasziniert es immer wieder, wie der kirchliche Kalender auf die natürlichen Abläufe des Jahres zurückgreift, um Glaubensinhalte sinnlich zu vermitteln. Natürlich nimmt er den Jahreszyklus der Region als Anschauungsgrundlage, in der sich der christliche Glaube etabliert hat. Regionale und kulturelle Anpassung sind sinnvoll. Schliesslich hat auch der christliche Glaube Rituale und Bräuche, die er vorgefunden hat, übernommen und neu gedeutet.

Wie wichtig eine Verwurzelung von Glauben, von Spiritualität im Leben und den alltäglichen, natürlichen, sozialen und kulturellen Lebenszusammengängen und Lebenswelten doch ist!? Wen das Verbundensein mit allem, wenn Spiritualität nicht ihren Ausschlag im Alltag findet, ist sie Theorie und somit meiner Meinung nach nicht mehr spirituell.

Das wurde mir heute bei einer äusserst profanen Angelegenheit – besser gesagt Dringlichkeit – deutlich (ich traue es mich fast nicht zu erzählen…?). Bei dieser Dringlichkeit ist mir die Rolle mit WC-Papier von dem Zweig gerutscht, an dem ich sie aufgehängt hate. Shit happens. Und ab ist sie, den Hang hinunter, und dabei hat sich zu meinem Entsetzten auch noch entrollt. Frisch angebraucht hatte ich sie und vorhin war ich doch noch so unglaublich stolz darüber, dass ich erst eine Rolle gebraucht habe.

Daran ist jetzt natürlich erst einmal nichts Spirituelles zu entdecken. Wohl eher sind die Kräfte der Schwerkraft daran abzulesen und die Tatsache, dass mir dieses Missgeschick heute zu-fiel. Zufall eben – wie das Meiste im Leben. Was ich aber an mir bemerkt habe, ist dass mich meine Erfahrung hier im Wald, der Versuch mein Leben zu entschleunigen, die Arbeit an mir mit dem Ziel achtsamer zu werden, verändert haben. Vor den Tagen des Gallus Experiments hätte ich mich masslos darüber geärgert, über mich, meine Ungeschicktheit, über die Schwerkraft…

Heute habe ich einen tiefen Atemzug genommen, einen Schritt nach dem anderen getan und die eine Dringlichkeit beendet, um zur nächsten überzugehen. Habe mich auf den Weg gemacht, die Rolle WC-Papier aus den Fängen der Wildnis zu retten, bin den Abhang hinuntergeklettert und wieder hinaus, das Papier aufgerollt und wusste, an meiner Achtsamkeit muss ich noch arbeiten. Die aufgewickelte Rolle WC-Papier sah aus wie neu. Aufgeregt und geärgert habe ich mich nicht. Das wiederum hat mich mega gefreut, denn mir wurde bewusst, dass ich in der Entschleunigung und der Reflexionsoffenheit, die ich mir von diesem Leben hier im Gallus Experiment erhofft hatte, angekommen bin. Ganz oft im Leben lassen uns Grenzerfahrungen innehalten und eröffnen uns neue Wege und Erkenntnisse.

Eine spannende Episode aus der Gallus-Vita ist mir bei diesem heutigen Erlebnis angeklungen. Gestern Abend am Lagerfeuer hat mir meine Teamkollegin erzählt, dass diese eine ihrer Lieblingsepisoden aus dem Leben des heiligen Gallus ist. Findige Köpfe werden jetzt wieder vorschnell einwerfen, Gallus habe ja sicher noch kein WC-Papier besessen – genau so wenig wie Rhabarberfladen und Hängematte (wobei ich mir bei letzteren beiden gar nicht so sicher wäre) – aber, ich glaube darum soll es bei diesem Experiment ja eben grade nicht gehen. Was hoffentlich die meisten verstanden haben?! Leben heute und Leben damals sind Grund auf verschieden, beides bezeichnen wir aber mit dem gleichen Wort «Leben». Soviel dazu!

Also, nun auf den Kern des Experiments zurückzukommen, und die Kraft und Wichtigkeit von Spiritualität und Naturverbundenheit zu beschreiben: Die Gründung von St.Gallen geht auf Gallus` Sturz in ein Brombeergestrüpp zurück. Brombeergestrüpp hat es in unseren Wäldern immer noch. Gallus kommt an seine Grenzen. Er war womöglich unachtsam, ist von der langen Wanderung und dem steilen und unwirtlichen Anstieg erschöpft, schliesslich war es schon Abend und er auf der Suche nach einer passenden Stelle für`s Abendgebet. Gallus stützt und erkennt: Jetzt ist es Zeit zu reflektieren, innezuhalten und nachzudenken, was ihm diese Erfahrung sagen kann. Er entscheidet sich zu bleiben und weiss, er ist am Ziel. Ein profanes Erlebnis für ihn. Ein entscheidender Moment für unsere Stadt!

Ich bin mir sicher, dass Gallus die Zeichen deuten konnte, weil er aus seiner bereits tief verinnerlichten spirituellen Erfahrung um die Bedeutung von Grenzen wusste. Und das Leben hier draussen in der Natur kennt auch heute noch viele Situationen, die uns Menschen Grenzen aufzeigen.

Ich bin froh um diese profane Erfahrung von Gallus damals und von mir heute. Ich fühle mich vielen anderen Grenzgänger*innen verbunden – auch mit Gallus von vor rund 1400 Jahren (auch wenn er noch kein WC-Papier kannte). ?