Bei Gesprächen am gestrigen Nachmittag und Abend haben mir Menschen von ihren Erfahrungen mit Stille erzählt. Ein Bedürfnis, für das sie sich immer wieder ganz bewusst Zeit nehmen. Eine Zeit, aus der sie Kraft für ihren Alltag und ihren Glauben schöpfen. Es tut so gut, sich mit Menschen über ihre Spiritualität auszutauschen. Ich erfahre dadurch so viel und lerne so, sehr viel für mich dazu. Sehr wahrscheinlich hätte ich ohne das Gallus Experiment nie mit diesen Menschen darüber gesprochen. Die stille Zeit im Wald beschenkt. Auch wenn es hier draussen nicht immer ruhig ist – Menschen kommen auf Besuch, der Bach rauscht, Kuhglocken läuten, der Rehbock röhrt in der Nacht, Flugzeuge fliegen über uns hinweg (immer zum Ärger von unserer Videografin Alessia, während sie mich interviewt!), Vögel zwitschern, still ist es aber.

Stille hat etwas mit unserem Inneren zu tun, hat mir gestern eine junge Frau erzählt. Hier im Wald wurde mir dies wieder neu bewusst. Stille hat etwas mit meinem Inneren zu tun. Im heutigen Text aus der Tradition der Wüstenväter begegnete mir der folgende kurze Text: `Poimen sagte: „Wenn du dich selber für gering hältst, hast du Ruhe, an welchem Ort du dich auch niederlassen magst.“` Auf den ersten Blick ein komischer Satz. Aber ich habe erfahren, dass die Schriften der ersten christlichen Einsiedler, die sich im 4. Jahrhundert ganz bewusst in die Abgeschiedenheit der Wüste Ägyptens zurückgezogen haben, um Gott zu suchen und ihm näher zu sein, alle für unsere Ohren ein wenig schwierig sind. Jeden Mittag lese ich aus deren Schriften bei der Meditation einen kurzen Text. Anselm Grün hat Texte der Wüstenväter in einem Buch zusammengestellt und kurz, für die heutige Zeit verständlich ausgelegt – für jeden Tag im Jahr einen Text mit einer Interpretation. Ich habe mich ganz bewusst für diese Literatur entschieden, weil sie eben auch für Columban und Gallus Auslöserin war, um in die Wüste, in die Wildnis loszuziehen.

Was hat also dieser merkwürdige Satz damit zu tun, dass Stille etwas mit unserem Inneren zu tun hat? Ich darf erleben, dass ich Stille dann finde, wenn ich mich als Teil von allem verstehe – als Teil von der Natur, von meinen Mitgeschöpfen, von der sicht- und der unsichtbaren Welt, vom Göttlichen. Dann gelange ich zur Tiefe der Stille in mir und in allem. Wenn ich mich aber als Teil von allem verstehe, dann stelle ich mich nicht über die anderen, dann nehme ich mich nicht wichtiger als das andere. Dann wiess ich, dass die Spinne, die an meinem Mittagsmeditationsplätzchen beginnt ihr Netz zu bauen, genau das gleiche Recht hat, hier zu sein, wie ich.

Heute Morgen kam eine Schulklasse aus dem Haldenschulhaus, die ich kenne weil ich dort Reli und ERG unterrichte zum Waldplatz am Rütibach, um gemeinsam mit Mitarbeiter*innen der Naturschule St.Gallen das Leben im Rütibach zu erkunden. Ein super Angebot der Naturschule – übrigens – und sehr zu empfehlen! Ich habe mich mega gefreut, diese Klasse zu sehen. Sie haben den Waldplatz belebt und sich wie Zuhause gefühlt. Natürlich haben sie dort auch gebrötlet und gespielt. Es war lustig und ausgelassen. Als es zwölf Uhr wurde, habe ich mich auf meine Mittagsmeditation vorbereitet und meinen Platz unweit der lebendigen Feuerstelle parat gemacht. Der Lehrer der Klasse fragte mich, ob sie gehen sollen, weil es ja laut sei. Eine wunderbare Geste von Marco, aber nicht nötig. Mir war bewusst, dass ich sehr gut in nächster Nähe zu dem lustigen Treiben meditieren konnte. Ihr Hier-Sein war ebenso berechtigt und gut, wie das meine. Es war definitiv nicht ruhig während der Meditation, aber still – in mir, im Sein mitten in allem als Teil von allem. Ich kann Stille finden, wo auch immer ich mich niederlasse, weil ich überall Teil von allem bin. Wie cool! ?

Hier so eng mit der Natur zu leben und zu sein, hat mein Bewusstsein dafür geschärft, Sich nicht zu wichtig zu nehmen – meine Interpretation von „gering halten“ -, ist der Boden für das Verbundensein mit allem. Im Gallus Experiment geht es nicht um mich, sondern um die hier entstehenden Erfahrungen und Interpretationen dieses besonderen Lebensstils, der sich an den Spuren des Heiligen Gallus orientiert. Der Blog ergibt sich aus der Überzeugung, dass es wichtig ist, diese Erfahrungen zu teilen und so einen Impuls für die Lebenskraft zu geben, die wir Menschen aus der Natur und dem Bewusstsein für ein Verbundensein mit allem schöpfen.

Ein grosses Geschenk in dieser Zeit hier im Wald ist und bleibt die Zeit – freie Zeit, unverplante Zeit, Lange-Weile, Langsamkeit. Ich darf mir Zeit nehmen „nichts“ zu tun. Aber geht das überhaupt? Nichts tun? Ich merke, dass ich immer etwas tue: Atmen, gehen, essen, sitzen,… Oft darf ich einfach da sitzen und beobachten. Einfach nur Beobachten. Wie das Wasser den Rütibach hinunterfliesst. Wie Ameisen einen meiner Brotkrumen stibizen. Wie eine Spinne den ersten Faden ihres neuen Netzes knüpft (das ist übrigens so faszinierend: Sie scheint dabei einfach nur in der Luft zu schweben. Empfehlenswert!)

Genau hinsehen. Genau hinhören. Etwas, wofür mir in meinem Alltag viel zu oft die Zeit fehlt. Hier merke ich , dass ich deshalb, weil ich mir keine Zeit dafür nehme, sonst viel zu schnell verurteile. Papst Johannes XXIII. Hat den Dreischritt „sehen-urteilen-handeln“ empfohlen. Ich sollte mich mehr daran orientieren. Mir Zeit für den ersten Schritt nehmen. Zuerst schauen, hören, wahrnehmen – genau, ausgiebig. Dann kann ich beurteilen und dann entsprechend handeln. Wie oft handle ich aber, ohne mir zuvor genug Zeit für`s Wahrnehmen und Sammeln der Informationen zu nehmen? Wie oft wird kommentiert, geantwortet, verurteilt, ohne genau hinzusehen.

Vor ein paar Tagen waren meine Nachbarinnen zu Gast am Rütibach. Die beiden Mädchen sind durch den Bach gewaatet und haben mir stolz ihre Entdeckung gezeigt: „Schau mal, Matthias, wir haben ganz viele Köcherfliegenlarven gefunden.“ Siedendheiss fiel mir ein; diese Larven habe ich vor ca. einer Woche auch entdeckt und beobachtet. Im Blog habe ich sie als Larven der Eintagsfliege betitelt. Bitte entschuldigt: Ich habe mir zu wenig Zeit genommen, um auf die Infos von Naeli zu warten! Danke Dir für Deine Infos, liebe Naeli! Also, ihr wisst jetzt, vor einer Woche habe ich von Köcherfliegen geschrieben. Nicht weniger spannend! ? !

Zwei für mich unglaublich wesentliche Erfahrungen haben mich auf die Spur der Stille gebracht: mich als Teil von allem zu verstehen und mir Zeit zum Wahrnehmen zu nehmen. Ich bin mir sicher, dass Gallus das in der Wildnis auch erlebt hat. Von einer Erfahrung wissen wir: Gallus begegnet dem Bären und handelt mit ihm eine Aufteilung der Lebensräume für ihn und die Menschen aus. Gallus weiss darum, dass er und der Bär Lebensraum brauchen. Gallus stellt sich nicht über den Bären. So kommen sie zu der überlieferten Lösung: Für den Bären stehen die Höhen, also die Berge zur Verfügung und für die Menschen die niederen, ebenen Flächen im Tal. Eine wunderbare Interpretation, die uns Josef Osterwalder in seiner Gallus-Vita da von der Bärenlegende bietet.

Und ohne genau wahrzunehmen und sich Zeit für`s Beobachten zu nehmen, hätte Gallus in seiner „Wüste“ an der Steinach nie überleben können. Obwohl ich froh bin, dass ich nicht Gallus bin, bin ich überglücklich, dass es ihn gab. Ich kann mir nämlich so einiges von ihm abschauen.

Und für alle, die es wissen wollen: Zwei nackte weibliche Dämonen sind mir hier draussen am Rütibach nicht begegnet – anders als dem armen Begleiter von Gallus, Hiltibod.