„Ich ging in die Wälder. Denn ich wollte intensiv leben, das Mark des Lebens in mich aufsaugen.“ – als intensiv habe ich das Leben im Wald in jedem Fall erlebt. Vor drei Tagen bin ich wieder nach Hause zurückgekehrt und versuche seither, das, was ich im Wald als „intensives Leben“ erlebt habe, darin, was vor dem Gallus Experiment mein Alltag war, einfliessen zu lassen.
Es ist lustig: Viele Menschen begrüssen mich, wenn sie mir begegnen, mit den Worten „Willkommen zurück in der Zivilisation“. Jetzt, wo ich wieder Zugang zum World-Wide-Web habe, kann ich mich wieder viel leichter darüber informieren, was beispielsweise eben „Zivilisation“ bedeutet. ? Wikipedia schreibt dazu: „Als Zivilisation […] wird eine menschliche Gesellschaft bezeichnet, bei der die sozialen und materiellen Lebensbedingungen durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht und von Politik und Wirtschaft geschaffen werden. Allgemeingültige Kennzeichen für Zivilisationen sind die Staatenbildung, hierarchische Gesellschaftsstrukturen, ein hohes Maß an Urbanisierung und eine sehr weitgehende Spezialisierung und Arbeitsteilung.“
Ja, zurück in dieser Zivilisation bin ich jetzt. Vieles kommt mir hier auf einmal so schnell, so unachtsam, so wenig wertschätzend und so wenig still vor. Technische Errungenschaften, Spezialisierung und Arbeitsteilung haben uns Menschen eine enorme Zeitersparnis gebracht. Wenn ich nur daran denke, wie einfach und schnell vieles dank Technik von der „Hand“ geht: Am Dienstagmorgen zum Hauskafi im Domzentrum musste ich einfach nur auf den Knopf „Schale“ an der Kaffeemaschine drücken und schon hatte ich in nicht mal einer Minute einen feinen Kaffee in der Tasse. Bis ich im Wald einen Kaffee trinken konnte, musste ich Holz hacken, ein Feuer entzünden (mit nassem Holz dauerte es wesentlich länger), warten, bis es ordentlich brannte, und dann erst, nach ca. 45 Minuten, kam ich zu meinem Becher Kaffee.
Unsere Zivilisation hat uns Zeitersparnis gebracht. Eigentlich. Die durch zivilisatorische Errungenschaften ermöglichte freie Zeit nutzen wir dazu, andere Arbeiten zu erledigen. Wenn ich auf die Zeit vor dem Gallus Experiment zurückblicke, dann war ich irgendwie stolz darauf, dass ich so viel arbeiten konnte – viele Aufgaben auch parallel erledigt habe. Ich war zum grössten Teil sehr effizient und habe viel geleistet. Wer viel in seiner Zeit zu arbeiten vermag, der kann stolz sein auf seine Leistung.
Aber ist unsere Zivilisation dazu da, um unsere Leistung zu steigern? Ist Zeitersparnis dazu da, um mehr mit Arbeit und Aufgaben vollzupacken? Erlebe ich das Leben intensiver, je mehr ich leiste? Ich merke gerade, was für eine wichtige Rolle die Orientierung an „Leistung“ in meinem Leben einnahm. Und mir wird das daran bewusst, wie ich mit meiner Zeit umgegangen bin. Im Wald war mein Verhältnis zur Zeit ein ganz anderes. Ich denke, das ist der grösste Unterschied zwischen dem Leben im Gallus Experiment und dem Leben in der Zivilisation, den ich bei mir feststelle. Wie möchte ich in meinem Leben mit meiner Zeit, meiner Lebenszeit umgehen? Und wann erlebe ich mein Leben als intensiv? Wenn ich viel los habe, oder wenn die Qualität, die Tiefe der Zeit hoch ist?
Eine Ahnung von Antwort auf diese Fragen gibt mir zum einen die Erfahrung, dass das Getrenntsein von meiner Familie während des Gallus Experiments mir gezeigt hat, was mir wirklich wichtig ist: Zeit mit den Menschen, die ich liebe. Zu Maria und Rea am Sonntag-Abend zurückzukommen war unglaublich schön – mir fehlen die Worte, das zu beschreiben. Und andererseits gibt mir die Stille-Zeit, die ich mir seit dem Gallus Experiment jeden Tag einräume, einen wertvollen Hinweis. Nicht mehr zwei Mal pro Tag, aber immerhin einmal. Die Zeit der Stille, wenn möglich draussen in der Natur, bei uns im Garten, erlebe ich als unglaublich intensiv. In dieser Zeit spüre ich das Verbundensein mit allem, das ich im Wald so oft erfahren habe. Ganz losgelöst von Leistung sein, ganz unproduktiv. Einfach nur da. Ja, ich möchte versuchen, einfach nur da zu sein, ganz im Hier und Jetzt. Und mit innerer Stille und Gelassenheit wahrzunehmen, zu beobachten, zu hören, was das Hier und Jetzt an mich für Aufgaben stellt.
Ob mir das gelingt?! Ich erzähle Euch, wie versprochen, mehr, am nächsten Montag. ?

Kaffeekochen im Wald braucht seine Zeit…