Heute morgen rückte die Zivilisation plötzlich ganz nah: Ich wurde von Geräuschen geweckt, die sich nach Holz-, Bau- oder Mäharbeiten vorne am Damm des Rütiweihers anhörten. Dabei wollte ich doch ausschlafen. Gut, die Vögel hatten ihr Morgenlob schon gesungen und der tagtägliche, morgentliche Besuch vom Hummeli war auch schon vorbei. Da gestern Nacht noch bis zwei Uhr Besuch da war, wollte ich die Morgenstunden etwas zur Erholung nutzen.

Nächte haben doch immer etwas Besonderes, etwas Geheimnisvolles, etwas Verbindendes und Verbindliches! Kein Wunder, dass in vielen Religionen die grossen Feste in der Nacht beginnen. So lange habe ich schon lange nicht mehr am Feuer gesessen und es gehütet. Der Blick in die Glut lässt mich immer danach fragen, für was ich glühe, welches Feuer ich am Brennen halten möchte. Wir haben lange geredet und geredet. Freuden und Schwierigkeiten gewälzt und einmal mehr wurde mir die Kraft der Freundschaft bewusst und tiefe Dankbarkeit liess mich dann müde und erfühlt einschlafen. Danke für diesen kostbaren und stärkenden Besuch in der Nacht! Ich habe heute den Tag über noch oft daran gedacht und die stärkende Verbindung gesucht. Spiritualität heisst auch, das Verbindende, die Beziehung zu suchen und zu pflegen – und dazu gehört auch die Verbindlichkeit. Ich kann nicht sagen „Ich bin Teil der Natur.“ oder „Ich entdecke Gott in der Natur.“, und dann die Verbindung nicht ernst nehmen und nicht mithelfen, dass die Natur geschützt und die Umwelt nachhaltig erhalten wird.

Ähnliches erlebe ich hier eben auch: Ich habe Zeit. Zeit, die mir geschenkt wird, weil ich hier sein kann. Wenn jemand auf Besuch kommt, dann ist es mir wichtig, Zeit zu schenken. Das ist so schön – wahrscheinlich das schönste Geschenk, das wir Menschen einander machen können. Ich kann hier in einer „langen Weile“ Zeit für’s Gespräch anbieten und erfahre, dass ich Menschen, die ich eigentlich schon lang „kenne“, hier erst richtig kennenlerne, weil ich Zeit habe. Zeit haben wäre doch eigentlich eines unser Hauptangebote und eine unserer Hauptaufgaben als Seelsorgende!? Ich bin dankbar, dass ich hier die Gelegenheit dazu habe und fühle mich einmal mehr mit dem Heiligen Gallus verbunden, dem von Herzog Cunzo erlaubt wurde, sich im Gebet an der Steinach niederzulassen unter der Bedingung, Seelsorge für die dort lebenden Menschen anzubieten. Glaubende und Suchende, Bekannte und Unbekannte haben ihn besucht – ein ähnliches Spektrum an Besuchenden findet sich hier am Waldplatz ein. Und, was unglaublich schön ist: sich einander unbekannte kommen miteinander ins Gespräch, führen Gespräche über tiefe Lebensthemen, teilen miteinander Leben. Zurückgezogenheit und Orte der Stille fördern das Verbindende. Wie cool, obwohl es so paradox tönt. Der Heilige Gallus war schon ein sehr schlauer und weiser Mensch – mit all seinen Ecken und Kanten.

Die gestrige „Brieftaube“ Paul, der mich mit feinem Kaffee vom Claro-Laden in der Engelgasse versorgte (Der Claro-Laden hat trotz der Baustelle in der Engelgasse offen – nur nebenbei ?!) meinte, dass das Thema „Zeit“ für mich schon zentral sei. Das höre er aus den Blogs heraus. Ich musste gestern noch länger darüber nachdenken. Danke, lieber Paul, für den Gedankenanstoss (und für den Kaffee natürlich)! Ja, das Thema „Zeit“ ist überhaupt ein zentrales Lebensthema, glaube ich. Hier während dieser Waldzeit im Gallus Experiment wurde mir das sehr bewusst, weil ich plötzlich Zeit hatte und ich die Natur beobachten konnte, die ebenfalls Zeit hat – oder sich natürlicher Weise Zeit lässt. Mein Alltag ausserhalb des Waldes ist zeitlich sehr stark von aussen bestimmt. Hier habe ich die Gelegenheit, auf die „innere Uhr“ zu hören und mein Leben an ihr auszurichten. Zu Beginn des Experiments habe ich „meine“ Armbanduhr (eigentlich gehört sie Maria – Danke für`s Ausleihen!) noch am Handgelenk getragen. Nach der ersten Woche ist sie fast unbewusst in den Hosensack gewandert. Meine Tagesstruktur wird von meinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen bestimmt. Ich stehe dann auf, wenn ich ausgeschlafen habe (und nicht durch Zivilisationslärm geweckt werde) und gehe schlafen, wenn ich müde bin. Halte Stille-Zeiten oder Esse, wenn es mein Bedürfnis ist. Einzig, um zu schauen, ob es Zeit für die Meditation um 12 Uhr oder um 19 Uhr ist, brauche ich meine Armbanduhr noch.

Ich glaube, die Gelegenheit, dass ich hier intensiv und unmittelbar den Zyklus der Natur miterleben durfte, hat mein eigenes Zeitempfinden, meine natürliche Zeit aktiviert. Diese Erfahrung erlebe ich als eine grosse Befreiung! Ich bin gespannt und habe ein wenig Angst davor, was mein „normales“ Leben ab nächster Woche mit dieser Erfahrung macht… Eine Terminanfrage für nächsten Montag hat mich auch hier erreicht. Das möchte ich jetzt noch nicht klären. Ab Montag kann man mich dann diesbezüglich kontaktieren und für einen anderen Tag einen Termin vereinbaren. Ich war schon mal ein bisschen stolz auf mich ?!

Tja, der Zivilisationslärm von heute Morgen, hat mich aber daran erinnert, dass die Zeichen meiner Zeit ab nächster Woche wieder andere sind – ich hoffe aber sehr, nicht mehr die von vor dem Gallus Experiment. Sondern ganz neue – sich ergebend aus den Erfahrungen hier im Wald. Spiritualität verändert Zeitverhalten – Zeit verändert Spiritualität.

Ich muss mir bewusst überlegen, was an Erfahrungen aus den letzten drei Wochen ich wie in mein Leben danach integrieren möchte. Danke für die vielen Anfragen dazu, was ich aus dem Erlebten mache – auch gestern Nacht am Feuer. Ich brauche das und das ist ja auch der Sinn von Verbundensein! Heute morgen habe ich die nahende Zivilisation erst einmal mit einem Bad im kalten Rütibach weggespült und wie jeden Morgen ein „Morning has broken“ geträllert – leider kann ich nur die erste Strophe halbwegs auswendig. Das Verdrängen funktioniert noch prima ?! Doch ein paar Stunden am Lagerfeuer wird es schon noch brauchen, um diese Herausforderung nachhaltig und befriedigend zu meistern!

heute abend
bist du mir
entgegengeleuchtet
rot glühend
wärmend und
verwandelnd
verzehrend
als wir
ums feuer
zusammensassen

deine wärme
macht
begegnung
möglich

deine hitze
durchglüht
gedanken worte ideen

deine kraft
kann auch
zerstören

verändern
verwandeln
und asche
nährt neues

begegnet
bin ich dir
in der
kraft des feuers
kaum zu
bändigen

funken
springen über
entfachen
herzen

heute abend
und überall dort
wo
du
brennst